Die Belletristen

Erzählkunst in allen Formen und Farben

Rezension: Ohnmacht

Jaja, hoerspielprojekt.de ist ein wahrer Quell von Hörspielen aller Art: da wird und wurde jedes Genre bedient vom klassischen Krimi bis hin zu experimentellen Dramen. „Ohnmacht“ ist von beidem ein bisschen und noch viel mehr: ein pädagogisches Hörstück. Hier wird die unbequeme Sekten-Thematik aufgegriffen und kritisch dargestellt. Vorab: eine Sekte ist eine Abspaltung von einer Religion. So gesehen sind sowohl der Islam als auch das Christentum Sekten. Natürlich haben diese sich zu Religionen weiterentwickelt, aber generell ist das Begriffspaar „Religion – Sekte“ kein leicht zu unterscheidendes. Dennoch: dass man sowohl das als auch das andere übertreiben kann, ist ziemlich gewiss – so geschieht es auch der Protagonistin von „Ohnmacht“.

Skript:

Die junge Katharina springt/fällt aus ihrem Fenster und stirbt auf offener Straße. Kommissar Lubenau und sein Kollege ermitteln, ob es sich um einen Unfall, einen Selbstmord oder gar Totschlag handelt. Dabei kommen sie familiären und religiösen Abgründen auf die Spur, befragen so manch fadenscheinige Person und kommen der Wahrheit Stück für Stück näher.

Die Geschichte ist einzigartig im Hörspielprojekt und hat schon deshalb ein Lob verdient. Hier wurde eine schwierige Thematik sehr sauber und spannend umgesetzt. Die Dialoge waren allesamt glaubhaft – besonders gefallen hat mir der Schlussdialog zwischen Lubenau und dem Assistenten. Sicher schwingt stets eine Wertung mit und des Autoren Absicht wird deutlich, aber dennoch lassen sich die Vorwände nicht so leicht entkräften. Martin Rühl zeigt, was so oder in ähnlicher Form schon in vielen Familien passiert ist. Dabei gelingt es ihm, die Protagonistin äußerst eindringlich zu skizzieren. Die Monologe Katharinas sind allesamt sehr einfühlsam und authentisch geschrieben. Lediglich das Familienleben hätte die ein oder andere Vertiefung benötigen können – so bleibt das Verhältnis der Eltern ein bisschen im Dunkel. Hier hätte eine rückblickende Schlüsselszene des „normalen“ Familienlebens Wirkung gezeigt. Abgesehen davon gibt es am Skript nichts zu bemängeln.

Sprecher:

Tolles Ensemble. Besonders schön finde ich, dass die Hauptrollen von zwei relativ neuen Stimmen gesprochen worden sind. Lubenau und sein Assistent haben eine hervorragende Arbeit geleistet. Durch Marcel-André Mander wird Lubenau zu einem interessanten Kommissar, der mal resigniert, mal idealistisch den Fall löst. Marcel-André bringt dem Charakter auch noch die gewisse Schwerfälligkeit des hohen Alters. Gelungen! Jan Julian Eiben spricht einen authentischen Assistenten, etwas unauffällig zwar, aber hey: er ist ein Assistent! Die Figur ist auf jeden Falll sympathisch gesprochen. Es gab ein, zwei kleine Ungenauigkeiten in der Aussprache, aber nichts weltbewegendes. Dass Dagmar Bittner eine hervorragende Sprecherin ist, kann nicht überraschen. Ich finde ihre Darbietung hier ungeheuer authentisch, emotional sehr tief. Voll in der Rolle. Daumen hoch! Auch wenn ich sie jetzt nicht aufführe, alle anderen Sprecher haben mir auch gefallen.

Schnitt:

Mit Michael Piotrowski war hier ein Mann am Werk, der als Audio Engineer weiß, was er tut. Besonders erwähnenswert ist, dass er alle Geräusche und Atmosphären selbst aufgenommen hat. Das zeugt nicht nur von Sachkenntnis, sondern auch von großem Engagement. Gewohnte, altbekannte Samples wird man also nicht zu hören bekommen, stattdessen lebendige und hochwertige Klangwelten. Das Hörspiel ist unaufgeregt und stilvoll geschnitten – solche Plots brauchen Raum zum Atmen. Diese lässt der Cutter dem Hörspiel. Es gab dennoch ein, zwei störende Details. Dazu gehört das ungewollte Lispeln von Dagmar Bittner. Zuerst dachte ich: gehört das zur Rolle? Hätte ja sein können bei einem Teenager. Dann dachte ich, es wäre ein heftig eingestellter De-Esser, aber es war wohl der Straßenverkehr auf der Originalaufnahme, wie ich später erfuhr. Bei dessen Entfernung entstand das ungewollte Lispeln. Da das Hörspiel in der Gegenwart spielt, wäre aber ein leichter Straßenverkehr im Hintergrund kein großes Problem gewesen – man stelle sich vor wie Katharina auf ihrem Bett sitzt und ihr Tagebuch schreibt, dabei darf ruhig ein wenig Straßenrauschen zu hören sein. Auf jeden Fall wären Nachtakes nötig gewesen, was bei einem non-kommerziellen Hörspiel kein Problem sein sollte. Allerdings weiß man ja nie, ob die Takes noch einmal so intensiv werden wie beim ersten Mal… eine Zwickmühle. Man kann es aber auch anders sehen und Dagmars Lispeln als Rolleneigenschaft werten. Den Gesamteindruck trübt dieser Umstand aber nicht. Das zweite störende Detail ist an einigen, wenigen Stellen der Raumeindruck, sodass der Kommissar basslastig sehr viel Präsenz hat und nah erscheint, während manche Figuren weniger basslastig plötzlich weiter entfernt erscheinen, obwohl es sich um intime Gespräche handelt. Das alles ist meckern auf hohem Niveau, aber dafür ist eine Rezension ja da! Insgesamt: sehr guter Schnitt!

Musik:

Die Musik hält sich angenehm zurück. Das Cello war eine gute Wahl, bringt eine latente Melancholie in das Hörspiel. Ich finde, Musik ist ein bisschen wie Make-Up (obwohl ich keins trage): bemerkt man es, ist es zu viel. Die Musik begleitet die Geschichte unauffällig und absolut passend.

Cover:

Eine wunderbare Zeichnung, die den Plot einfängt und das Ende offen lässt.

Fazit:

„Ohnmacht“ hat, nein: IST ein Alleinstellungsmerkmal innerhalb von hoerspielprojekt.de! Stilsicher und behutsam wurde hier ein gewagtes Thema aufgearbeitet und geschickt in einen Krimi verpackt. Ein Hoch auf alle Beteiligten und ein „Buuh!“ zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der ähnliches meistens nur mit zerhackten Klangcollagen hinbekommt.

R. M. Beyer

Über Martin Beyer-Festerling

Dipl.-Berufspäd. Martin Beyer-Festerling hat Medizin- und Pflegepädagogik sowie Philosophie an der TU Dresden studiert. Er schreibt Kurzgeschichten, betätigt sich aber zudem als Sprecher und produziert hin und wieder Hörspiele.

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Information

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 2. Februar 2012 von in Aktuelles, HÖRSPIEL_truhe und getaggt mit , , .

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